So nah wie in Seoul war ich nie wieder am Wettkampfgeschehen dran. Da erreicht man den Gipfel und jedes Hindernis, das tägliche Training, an dem man zuvor zu scheitern drohte, erscheint von oben auf einmal winzig und notwendig. –
Für Dokumentationszwecke durfte ich während der Probeläufe mit ins Olympia-Stadion, daher konnte ich einige hervorragende Bilder schießen, besonders von Manuela Pirosch, die zu einer einmaligen Höchstform auflief. Ich sprach mit ihr und und schaute mir das Goldkind bei der Pressekonferenz an. So unfassbar der Sieg für sie und mich war, dieser unglaubliche Moment trug bereits einen Makel.
Ich betreute drei Sportler aus verschiedenen Teams und trotz der erheblich dichter gestrickten Kontrollen lief es bei allen gut, bis dann das 100-Meter-Finale der Läufer kam. Als der Startschuss ertönte, flog Ben Johnson wie eine Kanonenkugel davon und erreichte das Ziel in unglaublichen neun-komma-siebenundneunzig und hielt dabei den Zeigefinger emporgereckt.
Drei Tage später stand der Spitzensportler als Betrüger am Pranger, nie zuvor war Doping je so im Fokus, niemals wurde die Luft so dünn, kein einziges Mal geriet meine Tätigkeit so in die Kritik. Das merkte man sogar bei Manuelas Pressekonferenz, als sie sich zu ihrem Sieg äußerte – obwohl sie da vor der Menge wie ein einfaches Mädchen vom Lande stand, der man kaum wirklich zugetraut hätte, irgendetwas Falsches getan, geschweige denn genommen zu haben, so scheu wie sie die Lippen wiederholt zusammenpresste. Unglaublich, wie sie das machte. Dennoch der Vorwurf stand wie mit Händen greifbar im Raum.
Ich muss gestehen, ich brauchte drei weitere Tage, bis ich vollends begriff, was dieses Ereignis bedeutete. Ich traf zunächst meine Leute, sprach die Sache mit Ben Johnson an, tauschte vorsichtig Informationen aus, wie die Prüfer bei ihnen vorgegangen waren, hörte mir auch die Danksagungen derer an, die nicht erwischt worden waren. Das galt für jeden, der bei mir war. Wir übertrieben einfach nicht so, wie das die Amerikaner getan haben mussten. Dann kamen Anrufe wegen Manuela, ob sie nicht ungewöhnlich vermännlicht sein, sie hätte sich sehr verändert – ein Journalist aus Berlin hatte mich aufgespürt und Grölsweg lief mir über den Weg. Letzteres war ein echter Schock, dann stand er vor meinem Hotel. Wir unterhielten uns, wie wir es schon immer getan hatten, ein Austausch von Belanglosigkeiten: Mit welchem Flug ich gekommen sei, das Hotel, das Wetter, nur dass er dabei so grinste. Ich beschloss, mich nun wenigstens auf der Westseite zurückzuhalten und meine Aktivitäten auf ein anderes Niveau zu bringen.